Marmorbildhauerei: die Veroneser Kunst des vierzehnten Jahrhunderts

copertina cangrande castelvecchio

Unser geliebtes Verona war schon immer eine Kunststätte, angefangen bei den architektonischen Strukturen bis hin zu den Gemälden, den Fresken und den Marmorskulpturen, alle Straßen in der Stadt erzählen ein Stück Geschichte.

Jedes Jahrhundert ist Zeugnis des architektonischen und künstlerischen Schaffens von Verona.
Unter der Herrschaft der Scaliger und dank des Bettelordens, konnten sich in Verona vor allem im vierzehnten Jahrhundert kreative Bildhauer durch Authentizität und Qualität ihrer Marmorkunstwerke in der europäischen Szene profilieren.
Um ihre Macht zur Schau zu stellen und Gott zu preisen, wetteiferten die Scaliger und der Bettelorden um die Kommission von Kunstwerken. Zu den auffälligsten Beispielen zählen vor allem die Arche Scaligere, die sich neben der Piazza Dante befinden, und die Statue des Cangrande zu Pferd, eines der Symbole von Verona, die an einer beeindruckenden Stelle im Castelvecchio bewundert werden kann.

arche scaligere verona trecentoArche Scaligere in Verona

Die jüngste Veröffentlichung "Scultori Veronesi del Trecento" (Veroneser Bildhauer aus dem vierzehnten Jahrhundert A.d.R.) von Cierre Edizioni, einer Neuauflage des gleichnamigen Werkes von Gian Lorenzo Mellini, das vor fünfzig Jahren herauskam, lenkt die Aufmerksamkeit auf die Veroneser Marmorkunstwerke dieser Zeit.  Durch die elegante Grafik wäre es ein schönes Weihnachtsgeschenk für alle, die Verona und deren Denkmäler lieben.

Trotz des großen Werts sind die Bildhauer, die Verona in dieser Zeit groß gemacht haben, kaum bekannt oder gar unbekannt geblieben. Dies ist zum Beispiel der Fall des magister lapidum Rigino d'Enrico, auch Meister von Santa Anastasia genannt, wie er von seinem Sohn Giovanni di Rigino bezeichnet und von dem Gelehrten und Kunstkritiker Gian Lorenzo Mellini identifiziert wurde.

 

Der Meister der Basilika Santa Anastasia: Wer steckt hinter dieser fast mysteriösen Figur?

Es ist nicht möglich, Rigino d'Enrico genau einzuordnen, da es keine direkten Informationen gibt.

Wahrscheinlich stammt der Meister von Santa Anastasia aus Nordeuropa, was man an den germanischen, etwas groben Zügen seiner Statuen erkennen kann und aus dem Trentino, wo ein großer Teil seiner Gönner wohnte.

Die künstlerische Prägung stammt mit ziemlicher Sicherheit nicht von der toskanischen oder venezianischen und auch nicht von der zeitgenössischen transalpinen Schule.
Seine (wahrscheinlichen) Werke zeugen von hoher Spiritualität, die man fast als "dantesk" bezeichnen könnte (Dante wohnte tatsächlich zur selben Zeit wie Rigino d’Enrico in Verona, A.d.R.)  bzw.  sind von Millenarismus geprägt, “er verleiht einen prägnanten Sinn des Heiligen und Menschlichen, des Bewusstseins und der Reife der Zeit, von der Spannung bis zur Stunde der Wahrheit” (Zitat aus “Scultori veronesi del Trecento”, Sommacampagna (Vr), Cierre Edizioni, 2022, Seite 17).
Auf der anderen Seite weisen seine Werke Elemente von unbändiger vitaler Ausstrahlung und einem gequälten Realismus auf.

Ein Beispiel für diesen skulpturalen Realismus findet man im Grabsiegel des Bischofs Bonincontro in der Kathedrale von Verona: Rigino hat in der Maske, im Gewand und in den Handschuhen des Bischofs Details geschaffen, die das Siegel fast realistisch erscheinen lassen. Trotz Abnutzung kann man den edlen Stolz der Skulptur im Kunstwerk erkennen.

sigillo sepolcrale vescovo bonincontroEinzelheiten des Grabsiegel des Bischofs Bonincontro

Anhand der Statue von San Gimignano in der Basilika Santa Anastasia vermittelte Rigino d'Enrico, diesen Realismus noch deutlicher: es sieht aus, als ob sich die Figur vom Sockel erheben würde, sie scheint aufzustehen, noch etwas unbeholfen in ihren Bewegungen, aber sich ausstreckend nach dem Rest der Welt, fast als würde sie zum Leben erwachen.

particolare statua San GimignanoEinzelheiten der Statue von San Gimignano

Rigino hat uns einige Skulpturen hinterlassen, unter anderem das Portal der Basilika Sant'Anastasia, eine gotische Kirche aus dem Jahr 1290.
Auf Rigino d'Enrico verweisen die beiden Architrave und Koppelfenster, ältester Kern des gesamten Portals.
Das Portal besteht aus unterschiedlichen, drittbündigen Figuren aus der Passionsgeschichte: die Verkündigung, die Geburt Christi, die Epiphanie, der Aufstieg zum Kalvarienberg, die Kreuzigung, die Auferstehung und die heilige Katharina.
Die Skulpturen sind sehr ausdrucksvoll und lebhaft, die Köpfe zeigen eine ausgeprägte volumetrische Planimetrie.

particolare portale santa anastasiaEinzelheiten das Portal der Basilika Sant'Anastasia

 

Die Verwendung von Marmor in der Veroneser Bildhauerei des vierzehnten Jahrhunderts

Der rote Marmor von Verona, den Meister Rigino d'Enrico für seine Skulpturen verwendete, ist eine Knollenkalke mit fossilen Einlagerungen wie Ammoniten und Belemniten, die in einer Feldspat Matrix aus Kotbällchen eingebettet sind (aus Wikipedia).

min marmo rosso verona

Dieses Material stammt hauptsächlich aus Verona, genauer gesagt aus Lessinia und der Gegend des Monte Baldo, und formte sich vor etwa 150 Millionen Jahren.

Es hat die für Skulptur und Konstruktion sehr gefragten technische Eigenschaften, ist resistent gegen Stöße, Beanspruchung, Verschleiß und Kratzer, leicht zu verarbeiten und lässt sich gut für Dekorationen und unterschiedliche Intarsien verwenden.
Roter Marmor kann naturbelassen verwendet oder bearbeitet werden: sandgestrahlt, per Hand antikbearbeitet, geschliffen, gebürstet oder poliert.
Dieses Material eignet sich bestens für Skulpturen und als Bodenbelag im Außenbereich, da es kaum unter Witterungsfaktoren leidet wie Temperaturschwankungen, Feuchtigkeit oder Niederschlag.

Außer für die Skulpturen des Meisters von Santa Anastasia (Rigino d'Enrico) aus dem vierzehnten Jahrhundert wurde roter Marmor in Verona für Gebäude und Gehwege verwendet: die Arena, die Promenade der Piazza delle Erbe und der Listón, die Bürgersteige des Corso Portoni Borsari, die Treppe der Vernunft zwischen Piazza Erbe und Piazza dei Signori, das Pflaster, die Löwen und die Säulen des Kreuzgangs der Basilika San Zeno.

 

Hauptquelle“Scultori veronesi del Trecento”, Sommacampagna (Vr), Cierre Edizioni, 2022